Ernährung ist nicht die „neue“ Religion

Ernsthaft Leute. Wenn ich noch einmal die Aussage „Ernährung ist die neue Religion“ höre oder lese, mache ich das Internet kaputt. Ich googel „google“ und zack das wars dann. Ich meine es ernst. Ohne das an dieser Stelle empirisch belegen zu können, schätze ich mal, dass etwa 80 % der Artikel über Essen und Ernährungstrends in den Feuilletons von Zeit, FAZ, Süddeutsche & Co. diesen Satz enthalten. Vielleicht sind es auch 90 %.

Scheinbar hat mal irgendein schlauer Mensch diesen Satz gesagt und seit dem wird gecopypastet was das Zeug hält. Egal ob zum Thema Low Carb, Paleo oder Clean Eating – er macht sich einfach über all gut. Wer seinem schlecht recherchierten Text über Veganismus ein bisschen Tiefe verleihen will, schreibt einfach diesen Satz mit rein und schon denken die Leute beim Lesen, „oh, wie tiefgründig“. Oder man denkt so wie ich, „oh, nicht schon wieder“. 

Denn ich halte diesen Satz einfach nur für ignorant und naiv. Ein für alle Mal: Ernährung ist nicht die „neue“ Religion. Ernährung war schon immer Teil von Religionen und Religionen beeinflussen schon seit vielen Jahrhunderten unseren gesamtgesellschaftlichen Umgang mit Essen. 

Sogenannte Speisegesetze finden sich in allen großen Weltreligionen. Der Islam unterteilt Lebensmitteln in solche, deren Verzehr gestattet ist (halal), und solche, deren Verzehr verboten ist (haram). Zu Letzteren zählen z.B. Schweinefleisch oder auch nicht-geschächtetes Fleisch und daraus hergestellte Produkte. Auch im Judentum erfolgt eine Unterteilung in erlaubte (koschere) und nicht erlaubte (treife, nicht koschere) Speisen. Koscher ist ein Tier nur, wenn es gespaltene Hufe hat und ein Wiederkäuer ist, wie etwa Kühe, Ziegen und Schafe. Zudem ist der gleichzeitige Verzehr von Fleisch und Milch tabu. Beim Hinduismus sind wiederum Kühe heilig und dürfen nicht gegessen werden und im Buddhismus sind vegetarische Lebensweisen weit verbreitet. Im Christentum gibt es für die Fastentage unterschiedliche Speiseregeln und freitags wird hier traditionell kein Fleisch gegessen. Und das war nur die kurze Zusammenfassung.

Ich versteh schon, dass man mit dem Satz „Ernährung ist die neue Religion“, auf die religiöse Praxis hinweisen möchte, die heutzutage viele im Kontext ihrer Ernährung betreiben. Doch diese Logik greift zu kurz. Nicht Ernährung ist die neue Religion, sonder der Kapitalismus. Und als solche hat er – der Kapitalismus – eben auch seine eigenen Speisegesetze. 

Diese Speisegesetze, die geprägt sind von einer kapitalistischen Durchrationalisierung, werden besonders eifrig von der Fitness-Community umgesetzt. Sie sind sowas wie die Gesandten, die Apostel unserer Zeit. Sie zeigen uns, wie man sich am besten selbstoptimieren kann, um dem System dienlich zu sein. 

In sozialen Netzwerken wie Instagram wird die frohe Botschaft mit Hashtags wie #fitness, #fitspiration oder #fitfam verkündet. Die Unterteilung der Lebensmittel erfolgt hier oft nach dem „clean eating“ Prinzip. Es gibt also „sauberes“ gutes Essen und „beschmutztes“ böses Essen. Letzteres wird nur akzeptiert, wenn das Lebensmittel einen erhöhten Proteingehalt aufweist und damit noch als „Fitness-Lebensmittel“ eingestuft werden kann. Schokoriegel werden dann zu Proteinriegeln und Pfannkuchen zu „Whey-Protein-Pancakes“. 

Genuss und Geschmack sind zweitrangig, es zählen die einzelnen Nährstoffe. Essen ist hier kein gemeinschaftlicher, kultureller, genussvoller Akt. Es wird lediglich eingereiht in die Liste der rationalen Pflichterfüllungen neben Sport und Beruf. Dieser asketisch, ökonomisch orientierte Lebensstil, gilt als der wahrhaftige und wird von allen Menschen abverlangt. Absolutheitsansprüche waren ja schon immer eine beliebte Sache bei Religionen. 

Das Einhalten der Gebote kann praktischerweise am Körper abgelesen werden. Und wer nicht in das Schema schlanke Frau oder sportlich-muskulöser Mann hineinpasst, dem wird mangelnde Willenskraft und Versagen unterstellt. Das mündet dann auch gern in die Stigmatisierung und Diskriminierung all jener Mensch, die so gar nicht in diese Schubladen passen. Diese Sünder*innen müssen schließlich auch irgendwie zur Einhaltung der Regeln gebracht werden. 

Auch der Grund, warum jedes Jahr ein neuer Trend à la Paleo, Low Carb oder Keto-Diät aufploppt ist schnell erklärt. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist eine Diät das perfekte Produkt. Sie scheitert fast immer, doch die Konsumierenden machen sich selbst dafür verantwortlich und kaufen mehr. Veganismus ist hingegen, auch wenn er hin und wieder so verkauft wird, keine Diät. Er ist ein Lebensstil, der in der Regel ethisch und/oder umweltpolitisch motiviert ist und sich gleichzeitig positiv auf die Gesundheit auswirken kann. 

Wer Veganismus ständig als „neue Religion“ bezeichnet, tut nichts anderes, als die Forderungen der Bewegung zu delegitimieren. Aktivist*innen die sich für Umwelt, Tier- und Menschenrechte einsetzen, werden damit als unbelehrbare Dogmatiker*innen deklariert, die nicht ernst genommen werden müssen. Diese Aussage kommt zudem häufig von der neoliberalen „alle sollen essen, was sie wollen“-Fraktion, die essen können was sie wollen, weil sie einer weißen Mittelschicht angehören. Karen, leg schon mal die Steaks auf den Grill! 

Festzuhalten bleibt, dass Ernährung zunehmend Mittel zum Zweck zwanghafter Selbstoptimierung wird. Wer schlaue Dinge über die Ursache schreiben möchte, sollte statt Copy& Paste vielleicht einfach mal ein Buch von Max Weber zur Hand nehmen.

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